Montessori in der Diskussion
Wie bei einem so umfangreichen pädagogischen Werk und einer so langen Schaffenszeit zu erwarten, gibt es vielschichtige Diskussionen um Montessoris diesbezügliche Auffassungen. Diese Seite ist Teil der Rubrik Montessori in der Diskussion, die diverse Streitpunkte um ihre Pädagogik inkl. Kritikerquellenangaben im Detail darlegt. Es wird daraus eine lebendige Diskussion deutlich, die sich in unzähligen Publikationen teilweise Jahrzehnte zurückverfolgen lässt.
Einleitung
Montessoris Arbeit als Wissenschaftlerin führte sie immer wieder zur Schlussfolgerung, dass die Gesellschaft durch erzieherische/pädagogische Mittel verändert werden müsse:
Aus ihrer Zeit als Ärztin und Anthropologin gibt zwei Bücher mit umfangreichen Texten, Frühe Anthropologische Schriften 1903-1906 und Pädagogische Anthropologie aus dem Jahre 1910[1]Frühe Anthropologische Schriften 1903-1906 und Pädagogische Anthropologie aus dem Jahre 1910, als Doppelband 2/1 und 2/2 Anthropologische Schriften der Maria Montessori Gesammelte Werke erschienen, Verlag Herder, 2019, die erstmalig auf Deutsch in 2019 veröffentlicht wurden. Im letzteren Buch stellt sie zunächst den (durchaus problematischen) Stand der Wissenschaft vor, der den Zeitgeist widerspiegelt. Diese Darlegungen bieten Stoff für Kritik, worauf wir im Folgenden eingehen.
In älterer und aktueller Kritik wird zwar nicht behauptet, dass diese Auffassungen die Jahrzehnte lange, erfolgreiche Praxis moderner Montessori-Einrichtungen beeinflussen würde, doch wären hiermit verbundene vermeintliche Ableitungen aus ihren damaligen Auffassungen auf die Grundlagen der Montessori-Pädagogik bedenklich.
Wichtig und relevant sind vor allem die im Buch dargelegten Schlüsse, die sie aus den damaligen Zuständen und ihren Beobachtungen zog. Ihr dort überzeugend dargelegter Ansatz war, die damaligen Missstände zu verbessern durch Bildungs- und Erziehungsprogramme - sowohl vorbeugende als auch heilpädagogische bzw. sonderpädagogische Maßnahmen. Für eugenische Problemlösungsansätze sprach sie sich nicht aus.
Geschichtlicher Kontext
Zwar war die Zeit um die Jahrhundertwende 1900 eine Zeit des Aufbruchs, mit einem stark ausgeprägten Fortschrittsglauben. Als wichtigen Kontext für die Bewertung von Montessoris Pädagogische Anthropologie muss man aber (mindestens) das damals vorherrschende Klassendenken, die großen Ernährungs- und Gesundheitsversorgungsprobleme, die systemische Vernachlässigung von Menschen mit Behinderungen und den Rassismus in Italien sehen - wie in unterschiedlichen Ausprägungen überall in Europa. Auch die sehr schwache Stellung der Frau muss man hier anführen, denn durch deren fehlenden Rechte und Einfluss dominierten die Ansichten traditionell geprägter Männer in allen wichtigen Angelegenheiten.
Charles Darwin hatte 1859 in seiner Theorie der natürlichen Selektion nachgewiesen, dass in der Natur „der am besten Angepasste überlebt“. Mit einem Wandel der moralischen Werte im 19. Jahrhundert, mit Fortschritten in der Medizin und neuen sozialen Wohlfahrtszielen lebten viele Menschen, die aus nüchtern evolutionärer Sicht hierzu nicht gehörten. In Europa tobte eine Diskussion darüber, wie auf die damit verbundenen zunehmenden sozialen Probleme reagiert werden solle, die sich aus den Folgen der Industrialisierung, dem Bevölkerungswachstum, der sozialen Wohlfahrt der gesamten Bevölkerung usw. ergaben.
Ein Diskussionsstrang war die „Angst vor der Degeneration“, die Darwins Cousin Francis Galton 1883 dazu brachte, mit der Wortschöpfung "Eugenik" Strategien zur aktiven Verbesserung der genetischen Zusammensetzung der Bevölkerung zur Diskussion zu stellen. Seine Theorie hatte Befürworter und Gegner. Die Diskussion darüber war salonfähig - man akzeptierte, dass sich die Gesellschaft diesem Thema stellen müsse. Eugenik war Teil der gesellschaftlichen Diskussionsatmosphäre, insbesondere in medizinischen und wissenschaftlichen Kreisen, in denen Montessori 1896 Ärztin wurde und arbeitete.
Schließlich ist der geschichtliche Kontext ihrer Terminologie im Buch wichtig. So hat sie damals u.a. von "Anormalen" bzw. "Monstern" geschrieben. Der erste Begriff war jedoch damals die gängige klinische Benennung von - wie wir heute sagen - Menschen mit Behinderungen; der zweite Begriff für Menschen mit schweren Missbildungen. Auch verwendete sie stellenweise den Begriff "Parasiten" für die "Anormalen", also Menschen mit Behinderungen, im Sinne von Individuen, die die Gesellschaft - ohne eigene Schuld - belasteten.[2]"Die unschuldigen Resultate solcher Ursachen zu vergessen, wie wir die Ursachen selbst vergessen, das würde bedeuten, Gefahr zu laufen, in einen Abgrund des Verderbens zu stürzen." (Vollständiges Zitat s.u.)
Einordnung der Pädagogischen Anthropologie
Nach der Promotion als Ärztin arbeitete Montessori zunächst an einer psychiatrischen Klinik in Rom. Schon 1899 setzte sie sich für Erziehungsmöglichkeiten von Kindern mit Behinderungen ein, was zu der Leitung eines heilpädagogischen Lehrausbildungsinstituts mit angeschlossener Modellschule für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen führte. Anschließend begann sie 1901–1902 mit Vorlesungen (in Anthropologie, Pädagogik und experimenteller Psychologie) und mit Forschungsarbeiten in Anthropologie mit dem Ziel, in diesem Fach Privatdozentin zu werden. Nach der Habilitation 1904 wurde sie zum Lehramt für Anthropologie zugelassen. So hielt Montessori von 1904 bis 1908 Vorlesungen, aus denen die Vorlesungsaufzeichnungen durch Studenten aus dem akademischen Jahr 1906-1907 in Buchform im Jahre 1910 als Pädagogische Anthropologie erschienen. Die Vorlesungsinhalte waren im Wesentlichen eine Wiedergabe der vorher von ihr belegten Kurse, ergänzt um ihre eigene empirische Forschung und ihre Analyse der relevanten gesellschaftlichen Probleme mit Lösungsansätzen.
Aus dem Buch ergibt sich, dass sie zu dieser Zeit das damalige Klassendenken, den vorherrschenden Rassismus und fragwürdige anthropologische Theorien nicht hinterfragte. Auch bilden die "Angst vor Degeneration" und die Suche nach Lösungen zur "Regeneration" der Bevölkerung im Buch einen roten Faden. (Mit Degeneration waren, wie sie selbst schreibt, die Folgen genetischer Veränderungen des Nachwuchses durch das Erbgut der Eltern gemeint, aber auch negative gesundheitliche und Umweltfaktoren zum Zeitpunkt der Zeugung sowie diverse damals verbreitete Krankheiten und Mangelernährungsfolgen.)
Was sie aber hinterfragt hat, war der Umgang mit Menschen mit Behinderungen, was aus ihrem beruflichen Hintergrund nahe liegend war - ebenso vehement hinterfragte sie die damalige Stellung der Frau.
Hierzu muss man wissen, dass Anfang des 20. Jahrhunderts Kinder mit Behinderungen in Italien gar nicht beschult wurden - oder nach Schulantritt in Einrichtungen gebracht, wo sie nicht pädagogisch betreut wurden. Die entsprechenden lebenslangen Folgen für den Einzelnen und für die Gesellschaft waren abzusehen. Montessori forderte, dass sie überhaupt beschult werden, mit besonderer Pädagogik, und sie verwies dabei auf die Erfolge der französischen Ärzte Séguin und Itard.[3]Diese Forderung als Befürwortung von Exklusion statt Inklusion ist absolut ahistorisch. Die Idee der gemeinsamen Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung entstand viel später. Sie geht zurück auf den Kinderarzt Prof. Dr. Theodor Hellbrügge, den Pionier in der Diagnostik und Behandlung von Entwicklungsstörungen und Behinderungen bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Da er seinen Patienten auch über die Therapie hinaus wirksam helfen wollte, gründete er 1970 die weltweit erste Schule, in der inklusiv unterrichtet wurde - Jahrzehnte vor Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Den Schlüssel zur Verwirklichung dieser Vision fand er in der Pädagogik Maria Montessoris. Mittlerweile gelten die Einrichtungen der Aktion Sonnenschein national wie international als Vorbilder für gelebte Inklusion.
Montessoris Analyse im Buch führte zu der Schlussfolgerung, dass die Gesellschaft mit erzieherischen/pädagogischen Mitteln, d.h. durch die Schule, dringend verändert werden müsste[4]Eine mögliche Lösung der gewaltigsten sozialen Probleme, wie denen der Kriminalität, der Morbidität, der Degeneration, können wir nur an dem Ort erhoffen, den die Kultur erschaffen hat, um die neuen Generationen in ihrer Entwicklung zu führen. (Vollständiges Zitat s.u.),
So wäre ein zutreffenderer Titel des Buches gewesen: Überblick der Anthropologie, mit pädagogischen Ableitungen im Hinblick auf Bildungs- und Erziehungspolitik.
Normalität / "Normalisierung"
Montessori strebte als Ziel ihrer ab 1907/1909 entwickelten Pädagogik die „normale“ Entwicklung von Kindern in dem Sinne an, dass jedes Kind sein individuelles Potenzial ungehindert entfalten kann. Bei Kindern, bei denen dies durch externen Faktoren oder schlechten eigenen Erfahrungen nicht der Fall war, sah sie eine individuelle „Normalisierung“ des Kindes durch "Selbsterziehung", d.h. die Rückkehr in seinen individuellen „normalen“ Zustand der Lernbereitschaft und Lernfreude, durch die Montessori-Pädagogik, als möglich an. (Der Ansatz erinnert an den heutigen Begriff Resilienz, wo es darum geht, wie Kinder zu ihrer inneren Stärke finden können und ihnen hilft, den Anforderungen des Lebens zu begegnen, ohne von ihnen überwältigt zu werden.)
Der Nachwelt hat Montessori mit der missverständlichen Wortschöpfung aus dem italienischen normalizzazione keinen Gefallen getan. Der Begriff ist manchmal schwierig zu vermitteln, vor allem weil man den Begriff „normal“ in verschiedenen Kontexten verwenden kann; so auch in der Pädagogischen Anthropologie, wenn es um normale vs. anormale Kinder geht.
Umdeutungen dieser beiden individuumsbezogenen, pädagogisch orientierten Begriffe als angestrebte „Norm“, an die sich die kollektive Entwicklung aller Kinder gleichermaßen anpassen sollte, sind allerdings weder neu noch richtig.
Der mittlere Mensch / Der perfekte Mensch
Unterschiedliche Interpretationen gibt es auch zu der Faszination von Montessori mit dem Konzept des "mittleren Menschen", gemäß einer Theorie des Begründers der Sozialstatistik, Adolphe Quetelet, der um 1835 Körper-Kennzahlen für den „mittleren Menschen" erhoben hatte. Anthropologen waren noch zu Montessoris Zeit fasziniert davon, dass einzelne Körpermaße einer Gauß'schen Normalverteilung unterliegen. So postulierte auch sie, dass der in Bezug auf alle Körpermaße "mittlere Mensch" als Inbegriff des "schönen" Menschen, also des "perfekten" Menschen zu sehen sei; Statuen der alten Griechen galten als Vorbild.
Montessori ging davon aus, dass durch die "Hybridisierung", also "Vermischung" der Menschen, im Laufe der Zeit der "mittlere Mensch" als "perfekter Mensch" entstehen würde und man versuchen sollte, diesen Prozess zu fördern bzw. Hindernisse auf diesem Weg zu minimieren.[6] "Aber die Sünden der Welt können auch aktiv bekämpft werden, und die Erziehung hat dabei eine Aufgabe unschätzbarer Zivilisierung. Wir müssen nicht nur das Denken unseres Jahrhunderts kennen, dass die leuchtende Fackel ist, mit der wir auf dem Weg des Fortschritts voran gehen, sondern auch die moralischen Bedürfnisse unserer Zeit und die Fehler, die durch unser bewusstes Eintreten besiegt werden können." (Pädagogische Anthropologie, S. 556) Montessoris Position ist also antirassistisch, mal abgesehen von der in Frage zu stellenden Stichhaltigkeit einer solchen Theorie. Sie sah jedenfalls die oben erwähnten erzieherischen Mittel dafür als essenziell an. Manche Kritiker interpretieren das Idealbild des "perfekten Menschen" als Aufforderung zu eugenischen Maßnahmen, was sich aus dem Text nicht ableiten lässt.[7]Zum gleichen Schluss kommt eine Masterarbeit von Lena Andrea Holzer, nach der Montessoris Beschreibung der Problemstellung zwar ähnlich der von Eugenikern ist, dass sie aber erzieherische Methoden empfiehlt und keine eugenischen. (Eugenik bei Montessori - Eine Betrachtung von Maria Montessoris Werk „Pädagogische Anthropologie“ aus der Perspektive der Eugenik. S. 81. Universität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, 2020 (Gutachterin Sabine Seichter))
Bei Kindern kam es Montessori darauf an, dass sie ihr jeweiliges individuelles Potenzial ungehindert entfalten können (s. "Normalisierung" oben).
1915 äußerte sie sich bei einem Vortrag dahingehend zur Eugenik, dass deren Erkenntnisse nur in einer weiten Auslegung hilfreich wären, und fuhr fort:
„... und ich halte es, obwohl die Eugenik die Erlösung für die Menschheit zu sein scheint, für einen großen Irrtum [Irrglauben], so zu denken ...“ (Kalifornische Vorträge Nr. 7, S. 127, Maria Montessori Gesammelte Werke Band 5)
Stellung der Frau
Montessori hat sich schon in den 1890er Jahren vehement für die Verbesserung der Stellung der Frau eingesetzt und die Mutterschaft als freie Entscheidung der Frau gefordert, für die damalige Zeit in Italien unerhört.[8]Science, Feminism and Education: the Early Work of Maria Montessori, Valeria Babini, History Workshop Journal, Issue 49, Oxford University, 2000; S. 56.
In ihrer oben beschriebenen beruflichen Entwicklung hat sie sicherlich auch berücksichtigt, welche Wege ihr in der damaligen Zeit offen standen, um wirksam zu sein.
Auch in der Pädagogischen Anthropologie äußerte sie sich dazu, da sie die verbesserte Stellung der Frau bzw. die Änderung der Stellung des Mannes als essenziell sah für die Verbesserung der Gesellschaft:
"... sind jedoch Menschen unserer Zeit kriminell, die im barbarischen Sinne Herrscher über das Sexualleben sind. Und wir akzeptieren schweigend die Sitten, an die man sich im nächsten Jahrhundert vielleicht wie an eine monströse Barbarei erinnern wird. Die gesamte moralische Erneuerung, die uns erwartet, dreht sich um den Kampf gegen die sexuelle Schuld. Die Emanzipation der Frau, der Schutz der Mutterschaft und des Kindes sind die leuchtendsten Beispiele dafür. ... Ein einziger Bereich dieses Problemkreises ist noch wenig thematisiert, nämlich die Keuschheit des Mannes und seine Verantwortung als Vater. ... Der Mann wird keusch sein, anstatt andere Menschen wie Sklaven zu unterdrücken und sie zur Prostitution zu zwingen, anstatt sie zu betrügen und ihr Leben durch Verführung und Vernachlässigung ihres Nachwuchses zu zerstören. Er wird fühlen, dass er andernfalls entehrt, moralisch verloren ist. ..."[9]Pädagogische Anthropologie, S. 559.
Bewertung der Pädagogischen Anthropologie
Sicherlich muss man zunächst festhalten, dass Montessori in ihrer Arbeit als Ärztin und Anthropologin (1896-1908), stellenweise rassistische sowie durch Klassendenken geprägte Auffassungen vertreten und abwertende Bezeichnungen von Menschen mit Behinderungen verwendet hat, die zwar für ihre Zeit typisch waren, aber aus heutiger Sicht inakzeptabel sind.
Auch wird das Buch verschiedentlich als ihr "wissenschaftlichstes Werk" bezeichnet, was in der Hinsicht stimmt, dass es sich um die Inhalte von Universitätsvorlesungen handelte und Montessori zwei anthropometrische Studien, die sie zwischen 1901 und 1906 an Frauen beziehungsweise Kindern durchführte, im Buch vorstellt - aber es war sowieso das einzige Buch dieser Art.
Das Buch ist aber nicht als die Grundlage ihrer Pädagogik anzusehen - hier ist vor allem das 1909 geschriebene und herausgegebene Hauptwerk, Die Entdeckung des Kindes[10]Maria Montessori Gesammelte Werke Band 1, Die Entdeckung des Kindes, Freiburg 2010, 3. Aufl. 2015, vgl. dazu auch die kritische italienische Ausgabe: Il metodo della Pedagogica Scientifica applicato all’educatione infantile nelle Case dei Bambini, hg. von Opera Nazionale Montessori, Roma 2000 zu nennen.
Im Kapitel Moderne Anthropologie findet man allerdings Hinweise auf ihre Erkenntnis, das eine andere Betrachtung des individuellen Schülers notwendig wäre.[11]"Die Erzieher sind weit davon entfernt, die Schülerschaft normale Kinder zu kennen, die man, ohne nachzudenken, der Einheitsmethode, der Ermutigung und der Bestrafung aussetzt. Wenn hingegen der Schüler vor den Augen des Lehrers als eine lebendige Individualität erscheinen würde, müsste er ganz andere Kriterien anwenden tief erschüttert im tiefsten Inneren seines Bewusstseins durch die Enthüllung vorher nie erwartet der Verantwortung." Das Konzept dafür war aber noch nicht ausgereift.
Montessoris Übergang zur Pädagogik
Montessoris Übergang zur Pädagogik war geprägt durch die Erkenntnis, dass sie sich auf der Suche nach wirksamen Mitteln zu gesellschaftlichen Veränderungen nicht auf die "Kranken" zu konzentrieren brauchte, sondern durch den Fokus auf die "Gesunden" vielleicht noch wesentlichere Erkenntnisse und Wirksamkeit erlangen könnte:
"Warum waren nun ausgerechnet meine gesamte Ausbildung und mein unbestreitbarer Erfolg das Hindernis, Zugang zur Seele der Kinder zu finden? Weil ich, wie schon gesagt, an der Krankheit interessiert war. Die Krankheit war das allein Wissenschaftliche, das allein Interessante, das allein Lohnende. Nur die Krankheit verdiente untersucht zu werden. Die Gesundheit? Die Gesundheit war gar nichts. Es war, als ob es sie nicht gäbe. Man sah dort, in diesem verborgenen Bereich, kein Forschungsproblem."[12]Das Kind offenbart sich selbst (1936)
Dies erklärt die komplette Änderung ihres beruflichen Schwerpunkts auf die Bildung und Erziehung von Kindern im Allgemeinen. Ab 1907, durch die Erkenntnisse bei der Leitung des ersten sogenannten Kinderhauses angetrieben, konzentrierte Montessori sich zunehmend auf die Weiterentwicklung und Verbreitung ihrer Pädagogik. Ihr bereits erwähntes erstes und wichtigstes pädagogisches Werk, auf Deutsch Die Entdeckung des Kindes, erschien 1909.
Ihre Approbation als Ärztin und ihre Dozententätigkeit gab sie wenige Jahre später auf, um sich voll auf ihr neues Aufgabenfeld konzentrieren zu können.
Fussnoten
[1] Frühe Anthropologische Schriften 1903-1906 und Pädagogische Anthropologie aus dem Jahre 1910, als Doppelband 2/1 und 2/2 Anthropologische Schriften der Maria Montessori Gesammelte Werke erschienen, Verlag Herder, 2019. Letzteres Buch liegt, beispielsweise auf Englisch, schon seit 1913 vor.
[2] Als Beispiel aus dem Buch Pädagogische Anthropologie (S. 194):
„... Da also die Schwachen ein Lebensrecht haben, kommt es dazu, dass alle diejenigen von ihnen, die natürlicherweise überleben, als Parasiten das soziale Gefüge der normalen Menschen belasten und ein lebendes Bild physiologischen Elends bieten, den Anblick eines uns allerdings als Mahnung dienenden Elends, da solche Bilder eine Auswirkung sozialer Faktoren darstellen, die kollektive Irrtümer menschlicher Moral sind.
Die Unkenntnis der Hygiene der Fortpflanzung, Krankheiten, die mit Lastern und der Verantwortungslosigkeit der Menschen verbunden sind, etwa Syphilis, andere Krankheiten wie Tuberkulose, Malaria und Pellagra – unbestrittene Geißeln unter den Völkern – das sind Realitäten, die das soziale Gefüge auflösen und sich spürbar bemerkbar machen durch ihr verhängnisvolles Ergebnis: die Geburt von schwachen Individuen. Die unschuldigen Resultate solcher Ursachen zu vergessen, wie wir die Ursachen selbst vergessen, das würde bedeuten, Gefahr zu laufen, in einen Abgrund des Verderbens zu stürzen. ...“
[3] Diese Forderung als Befürwortung von Exklusion statt Inklusion ist absolut ahistorisch. Die Idee der gemeinsamen Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung entstand viel später. Sie geht zurück auf den Kinderarzt Prof. Dr. Theodor Hellbrügge, den Pionier in der Diagnostik und Behandlung von Entwicklungsstörungen und Behinderungen bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Da er seinen Patienten auch über die Therapie hinaus wirksam helfen wollte, gründete er 1970 die weltweit erste Schule, in der inklusiv unterrichtet wurde - Jahrzehnte vor Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Den Schlüssel zur Verwirklichung dieser Vision fand er in der Pädagogik Maria Montessoris. Mittlerweile gelten die Einrichtungen der Aktion Sonnenschein national wie international als Vorbilder für gelebte Inklusion.
[4] "Wir hingegen spüren im Licht der Idealität, welches durch jene Lehre hindurchschimmert, dass man einen Weg zu Regeneration der Menschheit finden muss. Wenn daraus ein praktisches Handeln hervorgehen soll, so muss es zweifellos beim Menschen erfolgen, der sich noch auf dem Weg der Entwicklung befindet. Denn in jener Phase des Lebens, indem der Organismus sich noch im Aufbau befindet, kann man ihn wirksam beeinflussen und bei seinem Wachstum möglicherweise auch korrigieren.
Eine mögliche Lösung der gewaltigsten sozialen Probleme, wie denen der Kriminalität, der Morbidität, der Degeneration, können wir nur an dem Ort erhoffen, den die Kultur erschaffen hat, um die neuen Generationen in ihrer Entwicklung zu führen.
In der Schule haben wir bisher, gewissermaßen als Prinzip der Gerechtigkeit, an der ausgleichende Einheitlichkeit der Schüler festgehalten. Es ist eine abstrakte Gleichheit, die alle kindlichen Individualitäten auf einen Typus reduziert, der nicht als ideal bezeichnet werden kann, weil er kein Beispiel von Perfektion ist, sondern im Gegenteil eine inexistente philosophische Abstraktion darstellt: das Kind. Die Erzieher werden für ihr praktisches Einwirken auf die Kinder durch die Kenntnisse vorbereitet, die sie zu dieser abstrakten kindlichen Persönlichkeit erhalten haben. Sie betreten das Feld der Schule mit dem Vorurteil, bei allen Schülern mehr oder weniger die Inkarnation dieses Typus auffinden zu müssen. So leben sie über Jahre in der Illusion, das Kind kennengelernt und erzogen zu haben."
(Pädagogische Anthropologie, S. 18)
[5] Sieglinde Luise Elger-Rüttgardt schreibt in diesem Zusammenhang in ihrer Geschichte der Sonderpädagogik, dass Montessori, "ganz im Gegensatz zu Ellen Key, niemals rassenhygienische Ideen propagierte". (Geschichte der Sonderpädagogik - eine Einführung, Ernst Reinhardt Verlag München Basel, 2019)
[6] "Aber die Sünden der Welt können auch aktiv bekämpft werden, und die Erziehung hat dabei eine Aufgabe unschätzbarer Zivilisierung. Wir müssen nicht nur das Denken unseres Jahrhunderts kennen, dass die leuchtende Fackel ist, mit der wir auf dem Weg des Fortschritts voran gehen, sondern auch die moralischen Bedürfnisse unserer Zeit und die Fehler, die durch unser bewusstes Eintreten besiegt werden können." (Pädagogische Anthropologie, S. 556)
[7] Zum gleichen Schluss kommt eine Masterarbeit von Lena Andrea Holzer, nach der Montessoris Beschreibung der Problemstellung zwar ähnlich der von Eugenikern ist, dass sie aber erzieherische Methoden empfiehlt und keine eugenischen. (Eugenik bei Montessori - Eine Betrachtung von Maria Montessoris Werk „Pädagogische Anthropologie“ aus der Perspektive der Eugenik. S. 81. Universität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, 2020 (Gutachterin Sabine Seichter))
[8] Science, Feminism and Education: the Early Work of Maria Montessori, Valeria Babini, History Workshop Journal, Issue 49, Oxford University, 2000; S. 56.
[9] Pädagogische Anthropologie, S. 559.
[10] Maria Montessori Gesammelte Werke Band 1, Die Entdeckung des Kindes, Freiburg 2010, 3. Aufl. 2015, vgl. dazu auch die kritische italienische Ausgabe: Il metodo della Pedagogica Scientifica applicato all’educatione infantile nelle Case dei Bambini, hg. von Opera Nazionale Montessori, Roma 2000.
[11] "Die Erzieher sind weit davon entfernt, die Schülerschaft normaler Kinder zu kennen, die man, ohne nachzudenken, der Einheitsmethode, der Ermutigung und der Bestrafung aussetzt. Wenn hingegen der Schüler vor den Augen des Lehrers als eine lebendige Individualität erscheinen würde, müsste er ganz andere Kriterien anwenden, tief erschüttert im tiefsten Inneren seines Bewusstseins durch die Enthüllung vorher nie erwarteter Verantwortung." (S. 22)
[12] Das Kind offenbart sich selbst (1936) S. 118, in Durch das Kind zu einer neuen Welt. Gesammelte Werke, Band 15.