Montessori in der Diskussion
Wie bei einem so umfangreichen pädagogischen Werk und einer so langen Schaffenszeit zu erwarten, gibt es vielschichtige Diskussionen um Montessoris diesbezügliche Auffassungen. Diese Seite ist Teil der Rubrik Montessori in der Diskussion, die diverse Streitpunkte um ihre Pädagogik inkl. Kritikerquellenangaben im Detail darlegt. Es wird daraus eine lebendige Diskussion deutlich, die sich in unzähligen Publikationen teilweise Jahrzehnte zurückverfolgen lässt.
Einleitung (Prof. harald Ludwig) [A]In der deutschen Fassung (siehe Quellenhinweise) ist eingangs diese hilfreiche Einleitung zum Text, die wir mit abgedruckt haben.
Seit den 1930er Jahren hatte sich Montessori verstärkt für eine bessere politische Berücksichtigung des Kindes und seiner Rechte eingesetzt, 1937 im Anschluss an ihren Friedenskongress von Kopenhagen eine »Partei des Kindes« gegründet, die als weltweite soziale Bewegung zugunsten des Kindes gedacht war, und auch die Einrichtung eines Ministeriums für die heranwachsende Generation gefordert, für das sie verschiedene Bezeichnungen verwendet. Es geht ihr darum, für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bessere gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, um den kommenden Generationen ein höheres gesamtmenschliches Lebensniveau zu ermöglichen.[1]Insofern trifft die Übersetzung der Überschrift »Ministry of the Race« mit »Ministerium für menschliche Entwicklung« durch Klaus Hünig und Winfried Böhm die Intentionen Montessoris sehr gut und wird hier übernommen. Montessori sieht hierin eine auch in demokratischen Ländern noch nicht hinreichend erkannte, geschweige denn realisierte Zukunftsaufgabe. Scharf kritisiert sie das damalige Regelschulwesen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über das Kind und seine Entwicklung sollten zu einer grundlegenden Verbesserung im Erziehungswesen beitragen, wie das auch in anderen Gebieten erfolgreich praktiziert worden sei. Ein besonders beliebter Vergleich dafür ist bei Montessori die Agrarwirtschaft und die Steigerung ihrer Erträge durch wissenschaftlich informierte Kultivierung des Landes.
Der nachfolgende Text Montessoris erschien 1951 auf Englisch mit dem Titel The Ministry of the Race.[2]Der nachfolgende Text Montessoris erschien 1951 mit dem Titel The Ministry of the Race in der auf zwei Bände erweiterten zweiten Auflage eines Werks der Theosophischen Gesellschaft: Where Theosophy and Science Meet – A Stimulus to Modern Thought. Weitere Informationen – siehe unten. [B]Eine Übersetzung des englischen Titels ins Deutsche als "Das Ministerium zur Verbesserung der menschlichen Rasse", was woanders schon vorgekommen ist, erscheint nicht korrekt - siehe Kommentar unten
Unter dem Text ist, neben den Fußnoten und Quellenhinweisen, eine Kommentierung zu einzelnen Passagen im Text.
Das Ministerium für Menschliche Entwicklung (Maria Montessori 1951)
Unserer Epoche, die sich durch ihren erstaunlichen Fortschritt auszeichnet, mangelt es jedoch an etwas, was wesentlich für die Zivilisation ist, und dies könnten wir als »Kultivierung der Menschheit« bezeichnen. Auf dem Gebiet der Landwirtschaft wurde so große Mühe aufgewandt und wurden so viele Erfolge beim Züchten neuer, wunderschöner Blumenarten und Obstsorten erzielt! Dazu steht jedoch in auffälligem Widerspruch, dass kein ähnlicher Versuch unternommen wird »die Menschheit zu kultivieren.« Als die Landwirtschaft sich auf einen wissenschaftlichen Weg begab, Maschinen und andere technische Hilfsmittel einführte, um den Erdboden noch ergiebiger zu machen, begannen die technischen Experten zur gleichen Zeit mit einer Informationskampagne. Sie wurden von den Regierungen auf Bauernhöfe geschickt, wo sie Unterweisungen gaben und auch praktisch zeigten, wie man Verbesserungen durchführt, welche zu ertragreicheren und qualitativ besseren Ernten führen und somit ihren Wohlstand vergrößern könnten.
Nichts Vergleichbares wurde jedoch für die Menschheit unternommen. Es wird viel über misshandelte Kinder geredet, über Krankheit, die ihren Ursprung in den schlechten Familienverhältnissen hat, über Kindersterblichkeit; aber es gibt keine Organisation, die im Auftrag von Regierungen etwas Ähnliches in den Familien durchführt, um das Leben der Kinder zu verbessern. Wo es so etwas gibt, ist dies privaten Sozialorganisationen zu verdanken, und es ist vollkommen unzureichend, und dennoch gibt es keinen größeren Reichtum als die Menschheit selbst, denn die Menschheit ist der Schöpfer allen Reichtums. Das größte Interesse eines Staates sollte sein, ein starkes, intelligentes und gebildetes Volk zu besitzen. In unserer demokratischen Zeit, in der die Menschen indirekt durch Wahlen zur politischen Zusammensetzung der Regierungen beitragen, fordert niemand, die Kinder besser zu schützen und neue Institutionen zur Verbesserung ihrer Lebensumstände zu schaffen, während man die Notwendigkeit einer neuen Brücke, eines Deiches oder neuer Eisenbahnstrecken sehr genau wahrnimmt.
Man muss daraus schließen, dass der Gesellschaft noch immer ein Bewusstsein für das Kind fehlt. Was ebenfalls fehlt, ist die Erkenntnis, dass heute Frieden und Völkerverständigung unmöglich sind, wenn die Menschen dieser Völker nicht vorbereitet wurden, in ihrem Bewusstsein diese Notwendigkeit wahrzunehmen.
Die Menschheit scheint ihre ganze Kraft darauf zu konzentrieren, ihre Umgebung zu verbessern, aber sie vergisst ihre eigene Höherentwicklung. Die einzige Einrichtung, welche die fortschrittlicheren Nationen für Kinder geschaffen haben, ist die allgemeine Schulpflicht. Dafür wurde ein Ministerium ins Leben gerufen, das Erziehungsministerium, dem auch die höheren Stufen des Unterrichts unterstehen. Dieses Ministerium beschäftigt sich jedoch gar nicht mit dem Wohlergehen und mit den Lebensbedürfnissen der Kinder. Es verlangt nur, dass sie gezwungen werden, sogar mithilfe von Strafen, alle in derselben Weise zu lernen und dem willkürlich aufgestellten Lehrplan zu folgen. Schüler werden gezwungen, zur Schule zu gehen und das zu lernen, was dort unterrichtet wird, und sie müssen mehr oder weniger dasselbe tun.
Dieselbe Form der Schule besteht nicht nur für die Kinder der Grundschule, sondern auch für die, welche die höheren Schulen besuchen, und sogar für die Studenten an der Universität. Alle müssen zuhören und behalten, was ihnen beigebracht wurde. Es ist ein fest verankertes Prinzip, dass alle jungen Menschen, welche dieselbe Klasse besuchen, in etwa dasselbe Alter haben und jährlich versetzt werden sollen, zusammengefasst in einer Gruppe nach ihrem Geburtsjahrgang als wären sie Vierzig- oder Fünfziglinge.
Man könnte die unterschiedlichen Stufen des Unterrichts in den aufeinander folgenden Schulen wie in einem Kaleidoskop betrachten, als etwas, das sich niemals wirklich verändert. Da gibt es die jüngeren Kinder, die einen jungen und wenig erfahrenen Lehrer haben. In den höheren Klassen der Grundschule sind die Kinder größer geworden und auch der Lehrer ist älter und erfahrener. Dann kommen die jungen Menschen, welche die Mittelschulen besuchen. Sie sind in der Obhut eines jungen Mannes, der kürzlich sein Diplom für das höhere Lehramt erworben hat. Danach werden die höheren Schulen von ausgewachsenen Jugendlichen besucht, die sich in der Obhut von älteren Männern befinden, die ungefähr vierzig Jahre alt sind, und schließlich gibt es an der Universität erwachsene Studenten. Auch sie besuchen das Kolleg, wie die Kinder es tun, und ihre Professoren sind alt und weißhaarig. Aber das Erscheinungsbild und die Wirklichkeit ändern sich nicht. Die Schüler sitzen da und ein Lehrer spricht zu ihnen von seinem Pult aus mit seiner ganzen Autorität. Es gibt Prüfungen für alle und dabei müssen sie nachweisen, dass sie sich an das erinnern, was ihnen beigebracht wurde. Innerhalb dieser Institutionen gibt es keine lebendige Menschlichkeit. Es existiert dort keine Freundschaft unter den Schülern oder Sympathie zwischen Lehrern und Schülern. Gleichgültigkeit oder Rivalität herrschen hier. Ein Lernen, das man in den ersten Klassen durch Strafen und in den letzten Jahren durch eigensüchtige Erwägungen und Interessen des Einzelnen erzwingt, wird nicht als anziehend empfunden.
Heute sprechen die Psychologen viel von »Unterdrückung« bei Kindern, aber wenn man berücksichtigt, dass die Art des Unterrichtens stets ein und dieselbe ist, muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass nicht nur Kinder, sondern auch die Jugendlichen und die Erwachsenen unter den Schülern unterdrückt und deformiert, das heißt, in ihrer Persönlichkeit geschwächt werden, wenn man sie zum Lernen zwingt. Die Bildungseinrichtungen bringen daher ein Geschlecht seelischer Zwerge hervor, bei denen die höheren menschlichen Eigenschaften erstickt worden sind.
Tatsächlich zeigt jede Schülerkategorie ihre eigenen Reaktionen der Unterlegenheit und ihre eigenen Erscheinungsformen der Abnormität. Die unverschämte Widersetzlichkeit, die Unordnung und der Lärm in der Grundschule, die organisierten Streiche gegen den Lehrer in den höheren Schulen, die Studentenstreiks an der Universität sind Symptome für Formen eines anormalen Lebens. Alles, was die Schüler unmittelbar beschäftigt – ihr Leiden, ihre häuslichen Verhältnisse, der Zustand ihrer Gesundheit, ihre Leidenschaften und Laster –, für all das interessiert sich die Schule nicht. Kein bedeutsames Gefühl wird gefördert oder gezeigt, das Vertrauen und Verantwortungsgefühl bei den einzelnen erwecken könnte. Die Ärmsten verlassen die Schule, nachdem sie die Grundschule oder die unteren Klassen der Sekundarschule abgeschlossen haben. Die finanziell besser Gestellten schließen mit der höheren Schule ab, und nur die Reichen können es sich leisten, an der Universität zu studieren. Die Persönlichkeitswerte werden überhaupt nicht berücksichtigt.
Dies ist der Beitrag, den die Regierungen zur Bildung der Gesellschaft leisten und so kommt es, dass die menschliche Gesellschaft nicht aus gebildeten Menschen besteht, sondern aus Menschen, die man in Institutionen gesteckt hat, die kein bestimmtes Programm verfolgen, um die Menschheit auf ein höheres Niveau zu bringen und zu verbessern. Diese »Halbmenschen« wachsen in einer geistigen Wüste heran, sie werden gezwungen zu arbeiten, als wären sie dazu verurteilt, als wären sie Sklaven, denen nichts außer Gehorsam erlaubt ist. Die Schüler verbringen Jahre, ja ihre gesamte Jugend in der Welt der Schule. Dennoch kennt sie niemand. Keiner hat sich mit ihnen befasst. Ihre Namen stehen in den Karteien, aber der Mensch, der diesen endlosen Weg ganz gegangen ist, bleibt unbekannt. Wenn er die Schule verlässt, ist er orientierungslos, weil er nicht auf das soziale Leben seiner Zeit vorbereitet wurde. Er hat weder die Vorbereitung erhalten, ein Bürger seiner eigenen Nation zu sein, noch die, ein Weltbürger zu sein. Er wurde noch nicht einmal darauf vorbereitet, gewissenhaft eine Familie zu gründen.
Anstatt »kultiviert« zu werden, muss er sich ganz allein bilden. So bleibt die Menschheit, sogar die zivilisierteste, unvorbereitet und ihrer Zeit nicht gewachsen. Mehr als dafür bereit zu sein, eine zivile Organisation aufzubauen, ist sie darauf eingestellt, Unordnung zu stiften, zu rebellieren. Sie ist charakterlos und ohne eine eigene feste Meinung. Sie entfaltet sich selbst nach ihren eigenen persönlichen Bedürfnissen, aber sie ist unfähig, ihre eigenen Energien zu nutzen. Sie sucht per Zufall durch eine Reihe von Versuchen und Irrtümern nach ihrer endgültigen sozialen Gestalt. Was eines der Gleichnisse des Evangeliums zum Ausdruck bringt, könnte hier zutreffen: »Einige Samen fallen auf felsigen Grund, andere auf Sand und wieder andere werden von einem vorbeifliegenden Vogel aufgenommen, und nur die Samen, die auf guten Boden fallen, bringen Frucht.«[3]Zitat im Anschluss an das Gleichnis vom Sämann im 13. Kapitel des Matthäusevangeliums Alles wird dem Zufall überlassen. Es gibt keine Hilfe, die zur Erlösung führen und allen die guten Dinge der Erde zur Verfügung stellen könnte.
Zivilisation hat nach allgemeiner Auffassung in prähistorischer Zeit angefangen, als die Menschheit begann, das Land zu kultivieren und dabei Pflanzen zu gewinnen, die den natürlichen überlegen waren. Nun, in unserer Superzivilisation ist auf dem Niveau, das die moderne Zivilisation in ihrer Entwicklung erreicht hat, eine andere Art von Kultivierung erforderlich: die Kultivierung der Menschheit [C]Aus dieser Formulierung wurde schon abgeleitet, Montessori wäre für die Steuerung der Reproduktion als Staatsaufgabe gewesen. Aus dem Kontext ist jedoch diese Ableitung abwegig. Ohne sie werden alle in eine Art Barbarei zurückgeworfen. Unsere heutige Umwelt hat eine höhere Form erreicht, die sogar fantastisch in ihren Möglichkeiten ist. Aber beim Menschen ist das nicht der Fall. Der Mensch ist ein Barbar, sogar heutzutage noch mehr als in alten Zeiten, weil er unterdrückt wird und während der gesamten Epoche seiner individuellen Bildung, seiner Schulzeit, ein geistiger Sklave bleibt.
Es gibt in unserer Zeit kein größeres Interesse als die Kultivierung des Menschen. Wir verdanken dem Menschen den gesamten Wohlstand und die Wunder der äußeren Zivilisation von heute. Wir erkennen bereits, dass der Mensch unvorbereitet und unfähig ist, wenigstens das zu erhalten, was er aufgebaut hat. Wie die wilden Tiere in Gefangenschaft, die oft ihre eigenen Jungen töten, so ist der unterdrückte Mensch dabei, das Werk seiner eigenen Hände zu zerstören.
Den Menschen zu kultivieren, ist eine Wissenschaft, genau wie der Fortschritt der Umwelt auf der Wissenschaft beruht. Also muss die Wissenschaft, die darauf abzielt, den Menschen zu erforschen und zu erkennen, und welche die besten Bedingungen für das Leben aufzeigen kann, damit »seine höheren Energien auf dem guten Erdreich Frucht bringen«, eine der fortschrittlichsten unserer Zeit sein. Die Medizin und die Psychologie haben bereits wertvolle Beiträge geleistet. Auch unsere lange erzieherische Erfahrung hat ihren Teil zu der Höherentwicklung des menschlichen Lebens beigetragen.
Aber was fehlt, ist das Erwachen des Bewusstseins für die Notwendigkeit, die Entwicklung des Fortschrittes auf den Menschen selbst zu richten. Dieser Fortschritt darf jedoch nicht auf private Initiativen beschränkt bleiben. Man sollte ihn vorantreiben und ihm dazu verhelfen, dass er sich als ein Bedürfnis von öffentlichem Interesse entwickelt.
Dies betrifft nicht nur die Reform der Schule; und es ist auch nicht richtig, den Aufgabenbereich des Erziehungsministeriums einfach zu erweitern. Es sollte eine neue Einheit entstehen, ein neues Ministerium – »Das Ministerium für menschliche Entwicklung« –, dessen Aufgabe es ist, nicht nur für Unterricht und Berufsausbildung zu sorgen, sondern das Leben des Menschen zu beschützen, die Bedürfnisse der Bevölkerung auf sichere und positive Weise zu erfassen und schließlich bewusst den Fortschritt der Menschheit anzuführen und zu leiten. [D]Hervorhebung nicht im Original
Es ist erstaunlich, dass angesichts der offensichtlichen Unordnung der Welt diese Art der Verteidigung bisher nicht in Betracht gezogen wurde. Stattdessen wird für jedes neue Bedürfnis, das weniger wichtig ist, ein neues spezielles Ministerium geschaffen. Wenn die Menschen die Fähigkeit des Schreibens erworben haben und auf diesem Wege versuchen, ihre Freunde in der Ferne zu grüßen, wird ein Postministerium ins Leben gerufen. Wenn die Verkehrsverbindungen durch die Mittel, die für diesen Fortschritt notwendig sind, zunehmen und schneller werden, so wird ein Transportministerium gebildet. Hingegen bleibt die Regierung untätig hinsichtlich des komplizierter gewordenen Lebens der Gesellschaft, in der die Zahl der vernachlässigten Kinder wächst, in der die Zahl geisteskranker Menschen ansteigt, in der die Jugendkriminalität zunimmt. Kein Ministerium wird für die Bedürfnisse der Menschen geschaffen, um ihnen bei ihrer Anpassung an die neuen Lebensformen zu helfen, die durch äußere Formen des Fortschritts entstehen. Stattdessen entstehen immer mehr Sozialwerke: mehr psychiatrische Anstalten, mehr private Kliniken, mehr Krankenhäuser, alle in ihrer Ausrichtung unabhängig, ohne eine Leitung, die sie koordiniert, und ohne einen offiziell anerkannten Status.
Diese privaten Institutionen bedeuten für eine kranke Gesellschaft zwar Linderung, aber sie zielen nicht auf Mittel und Wege, diese Krankheiten zu vermeiden und die Gesundheit der Gesellschaft zu schützen. Heute spricht man viel von einer Vereinigung der Gesellschaft, aber dies bleibt nur ein Wunsch, oder besser die emphatische Äußerung eines Bedürfnisses, aber es wird nichts getan, um dieses unklare Verlangen zu erfüllen. Es ist offensichtlich, dass man den Menschen vorbereiten muss, um die Gesellschaft zu vereinigen. Deshalb ist es notwendig, dass ein Teil, ein Bruchteil der Reichtümer, welche die Menschen durch ihre Arbeit gesammelt haben, für die Ausweitung ihres Lebens und ihr Wohlergehen genutzt werden sollte.
Heute wird das Wissen der verschiedenen Zweige der Psychologie über die Entwicklung der Persönlichkeit in den verschiedenen Altersstufen nur unsystematisch studiert und nur auf private Initiative hin. Es ist ein Fortschritt, der auf das Gebiet der wissenschaftlichen Forschungsliteratur beschränkt bleibt, aber es ist auf der anderen Seite eine sehr dringliche Aufgabe, und es ist deshalb unbedingt notwendig, seine außerordentliche Bedeutung richtig einzuschätzen, seine Entwicklung zu erleichtern, und ihn durch jedes uns zu Gebote stehende praktische Mittel zu organisieren.
Nehmen wir die Schulen als Beispiel. Wir wollen sie nur als eine erzieherische Institution betrachten, als eine universelle Mobilisation der Kinder und Jugendlichen bis ins Erwachsenenalter. Die gesamte Menschheit wird dort in ihrer formativen Periode vereinigt. Was für eine großartige Gelegenheit, diese jungen Menschen zu erforschen, die wirklichen Bedürfnisse aller zu erkennen zu suchen, zu wissen, welcher Missstand die meiste Aufmerksamkeit erfordert. Welch eine Gelegenheit, die Entdeckungen der Wissenschaft auf die menschliche Entwicklung anzuwenden! Was für eine Gelegenheit, die Erfahrung und ihre Anwendung auszuweiten!
All diese jungen Menschen werden auf gesetzlicher Grundlage an Orten vereinigt, die für sie geschaffen wurden, den Schulen. Alle Kinder und Jugendlichen halten sich stets dort auf – Tag für Tag, über Jahre hinweg, bis zum Ende, ihr gesamtes junges Leben lang! Warum wird man hier nicht für die Verbesserung der Menschheit tätig, indem man sie auf die Ideale und Ziele der Einheit und Harmonie hinlenkt, die sie zu einer universellen Verständigung bringen würden? Ist es etwa nicht diese zivilisierte Menschheit, die hier versammelt ist und in ihrer formativen Periode der Bildung vereint bleibt, die ein praktisches und sie schützendes Handeln hervorruft und die so dem positiven Einfluss des Fortschrittes ausgesetzt wird, wie die Pflanzen, die dem Einfluss der Sonne ausgesetzt werden?
Den Menschen anzuleiten, gegen Analphabetismus zu kämpfen, oder ein Handwerk zu lehren oder einen Beruf gemäß den wirtschaftlichen Verhältnissen, ist etwas ganz anderes als das Ziel, eine wirkliche Verbesserung im Leben zu erreichen! Das Ziel sollte vielmehr sein, der Menschheit, das heißt dem Menschen, von Geburt an Aufmerksamkeit zu schenken und seine Entwicklung zu fördern, seine wesentlichen Bedürfnisse in den unterschiedlichen Entwicklungsperioden zu befriedigen; seiner Intelligenz und seinem Gemüt Nahrung zu geben, Freiheit zu gewähren für die Entfaltung des Geistes, Führung und Orientierung zu bieten für die schließlich erforderliche Anpassung an die Gesellschaft. Schließlich sollte das Ziel der Erziehung sein, dem großartigsten aller Reichtümer »geistige Führung« zu geben: dem Menschen selbst.
fussnoten
[1] Insofern trifft die Übersetzung der Überschrift »Ministry of the Race« mit »Ministerium für menschliche Entwicklung« durch Klaus Hünig und Winfried Böhm die Intentionen Montessoris sehr gut und wird hier übernommen.
[2] Der nachfolgende Text Montessoris erschien 1951 mit dem Titel The Ministry of the Race in der auf zwei Bände erweiterten zweiten Auflage eines Werks der Theosophischen Gesellschaft: Where Theosophy and Science Meet – A Stimulus to Modern Thought, vol. II: God and Law, ed. by D. D. Kanga, Adyar/Madras 1951, p. 516–522. Dieses Werk war erstmals in nur einem Band 1938 (unveränderter Nachdruck 1943) erschienen. Im AMI-Archiv in Amsterdam befindet sich ein Exemplar des Artikels Maria Montessoris mit einer Datierung durch Ada Montessori auf Mai 1948 und dem Vermerk: »für das Buch von Prof. Kanga«. Daraus lässt sich schließen, dass der Beitrag Montessoris erst für die zweite Auflage des Werkes bestimmt war, deren erster Band 1949 erschien, deren zweiter 1951. Montessori war im Oktober 1939 auf Einladung der Theosophischen Gesellschaft mit ihrem Sohn Mario zu einem für ein halbes Jahr geplanten Ausbildungskursus nach Indien aufgebrochen. Infolge der Kriegsumstände musste sie aber mehrere Jahre dort bleiben und kehrte erst 1949 – nach einem Zwischenaufenthalt in Europa 1946/47 – endgültig in die Niederlande zurück. Die folgende deutsche Übersetzung legt die englischsprachige Veröffentlichung von 1951 in Indien zugrunde. Ein italienisches Originalmanuskript war nicht auffindbar. Eine deutsche Übersetzung des englischen Textes durch Klaus Hünig und Winfried Böhm mit dem Titel »Das Ministerium für menschliche Entwicklung« erschien in: Böhm, W. (Hg.): Maria Montessori – Texte und Gegenwartsdiskussion, 5. Aufl., Bad Heilbrunn 1996, S. 17–22 (erstmals 1971). Diese Übersetzung wurde auch veröffentlicht in: Das Kind 1/1979, S. 11–14, sowie in: Das Kind 51/52–2012, S. 71–74. Eine italienische Übersetzung »Il ministero della specie« publizierte Augusto Scocchera im Rahmen seines Artikels »Un inedito di Maria Montessori« in: Vita dell’infanzia 41 (1992), n. 10, p. 3–7; erneut veröffentlicht mit dem Titel »Il Ministero della specie e la nuova politica dell’educazione« in: Montessori, Maria: Il metodo del bambino e la formazione dell’uomo, a cura di A. Scocchera, Roma 2002, p. 173–180. Die genannten Übersetzungen werden vergleichend herangezogen.
[3] Zitat im Anschluss an das Gleichnis vom Sämann im 13. Kapitel des Matthäusevangeliums.
Kommentierung
HINWEIS: Diese mit Buchstaben nummerierten Anmerkungen wurden von Montessori Deutschland eingefügt; sie sind nicht Teil des Texts in der deutschen Fassung.
[A] In der deutschen Fassung (siehe Quellenhinweise) ist eingangs diese hilfreiche Einleitung zum Text, die wir mit abgedruckt haben.
[B] Wie Prof. Ludwig als Einleitung zu diesem Text schreibt, war Montessoris Anliegen, "für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bessere gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, um den kommenden Generationen ein höheres gesamtmenschliches Lebensniveau zu ermöglichen". (Siehe auch Kommentar [C] unten.)
Der Originaltext ist hier zu finden.
Schon in 1936 forderte Montessori in einem niederländischen Radio-Interview: "Ich denke, wenn es ein Ministerium für Post und Telegraphen, ein Ministerium für Kommunikation usw. gibt, ist es viel notwendiger, ein Ministerium für die Verteidigung und den Schutz der Menschheit zu haben." (Quelle: Joke Verheul, Maria Montessori Archives)
In 1937 forderte Montessori: "Es sollte ein Ministerium für den Schutz der Menschheit geben, d.h. ein Ministerium für das Kind." (Aus einer Ansprache "Erziehung für den Frieden", in Die Macht der Schwachen, Herder 1989.)
In Fußnote [2] oben ist eine italienische Übersetzung mit "Il Ministero della specie" tituliert, also "Das Ministerium der Spezies".
Insofern ist eine Übersetzung des englischen Titels ins Deutsche als "Das Ministerium zur Verbesserung der menschlichen Rasse", was woanders schon vorgekommen ist, unzureichend recherchiert.
[C] Aus dieser Formulierung wurde schon abgeleitet, Montessori wäre für die Steuerung der Reproduktion als Staatsaufgabe gewesen. Aus dem Kontext ist jedoch diese Ableitung abwegig.
[D] Hervorhebung nicht im Original
Quellenhinweise
Aus: Maria Montessori, Durch das Kind zu einer neuen Welt, Gesammelte Werke, Hg. Harald Ludwig
© 2013 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Kursivsetzungen sind im Original. Fußnoten, die sich auf andere Kapitel des Buchs beziehen, wurden nicht abgebildet.