Einleitung
Wie bei einem so umfangreichen pädagogischen Werk und einer so langen Schaffenszeit zu erwarten, gibt es vielschichtige Diskussionen um Montessoris Auffassungen und Lebensweg.
Hierbei sind wir im deutschsprachigen Raum in der herausragenden Situation, durch die wissenschaftliche Gesamtausgabe in Maria Montessori Gesammelte Werke (Verlag Herder) die größte Transparenz weltweit zu ihrem Werk zu haben.
Prof. Harald Ludwig, Herausgeber der Maria Montessori Gesammelte Werke und die herausragende Autorität der heutigen Zeit zu ihrem Werk, schreibt zu dieser Diskussion einleitend in seinem Text "Kritik und Metakritik der Pädagogik Maria Montessoris" (A)Aus Block C: "Montessori-Pädagogik in der Diskussion", Grundgedanken der Montessori-Pädagogik.:
„Um die Pädagogik Maria Montessori gibt es seit ihren Anfängen eine lebhafte Diskussion. Sie hat begeisterte Anhänger gefunden, aber auch erbitterte Gegner. Indessen ist ein solches Schicksal den meisten großen Konzepten in der Pädagogik Geschichte widerfahren. Allerdings scheint bei Montessori diese Auseinandersetzung besonders intensiv und anhaltend zu sein, wofür es sicherlich eine Reihe von Gründen gibt, ...“
Ludwig geht dann auf die folgenden Hauptdiskussionspunkte im Einzelnen ein:
- Naturalismus
- Individualismus
- Kollektivismus
- Intellektualismus
- Mystizismus.
In einem zweiten Kapitel beschreibt er die "Grundregeln für eine wissenschaftliche Diskussion der Pädagogik Maria Montessoris" aus seiner Sicht, die sich aus der Komplexität ihres Werkes ableiten. Hierzu haben wir den Abschnitt "Standards hermeneutischer Arbeitsweise" unten veröffentlicht.(B)Dieser Text umfasst Abschnitt 2.1 aus Kapitel 2, "Grundregeln für eine wissenschaftliche Diskussion der Pädagogik Maria Montessoris" des unter "Quellenhinweise" aufgeführten Buches. Er enthält einen weiteren Abschnitt aus Unterkapitel 2.1, "Exkurs: Theorie und Praxis bei Montessori". In einer früheren Auflage des Buches, aus 2003, erscheint das Kapitel unter dem Titel "Die halbierte Montessori – Zur Wiederbelebung alter Montessori-Kritik in neuen Veröffentlichungen". In der neuen Auflage von 2022 sind die "Standards hermeneutischer Arbeitsweise" hinzugekommen; dafür entfielen einzelne Kommentierungen von damals aktueller Kritik. Ebenso veröffentlichen wir Unterkapitel 2.2 zur Weiterentwicklung der Pädagogik hier.
Redaktioneller Hinweis: Am Fuß dieser Seite ist, neben Fußnoten zu den Originaltexten und Quellenhinweisen, eine Kommentierung zu einzelnen Quellen und Passagen der Seite.
Ausgewählte Diskussionspunkte
Von Zeit zu Zeit ergänzen wir unsere Website, um auf Diskussionspunkte einzugehen, die über die Montessori-Pädagogik im engeren Sinne hinausgehen (C)Die letzten beiden Punkte beziehen sich auf Texte von Maria Montessori aus den Nachkriegsjahren; sie sind mit Pathos vorgetragene Beispiele für ihre tiefen Überzeugungen. Ihre Gesellschaftskritik ist noch heute relevant. (Wir freuen uns, mit Genehmigung des Verlags Herder diese Texte auf unserer Website zu veröffentlichen und somit einem breiteren Publikum bekannt machen zu können.):
Frühes Wirken als Medizinerin/Anthropologin: In Maria Montessoris früher Arbeit als Ärztin und Anthropologin zeigte sie großes Engagement für die Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, allerdings eingebettet in ein von Rassismus, Klassendenken und der Angst vor gesellschaftlicher Degeneration geprägtes kulturelles Umfeld.
Im Buch Pädagogische Anthropologie reflektierte sie den wissenschaftlichen Diskurs ihrer Zeit unkritisch, nutzt aber ihre Beobachtungen und empirischen Daten, um die Notwendigkeit pädagogischer Innovationen zu untermauern. Montessori argumentierte überzeugend für die Kraft von Bildung und Erziehung in Form von vorbeugenden und heil- und sonderpädagogischen Maßnahmen.
Ihre Nutzung wissenschaftliche Methoden und Messungen - nicht als Endzweck, sondern als Mittel zur Entwicklung effektiver Bildungs- und Erziehungsstrategien - stellte zeitlebens einen wesentlichen Aspekt ihres Wirkens dar. Ihre Arbeit spiegelt ein tiefes Verständnis dafür wider, wahre gesellschaftliche Veränderungen nur durch die Schaffung von Bildungsmöglichkeiten erreichen zu können.
"Montessori und Mussolini – ein Interview": Montessoris Ziel, nach dem ersten Weltkrieg die Montessori-Pädagogik als Staatspädagogik in ihrem Heimatland Italien einzuführen, ließ sich nur mit Unterstützung Mussolinis umsetzen, der 1922 an die Macht gekommen war. Hintergründe erläutert der Vorsitzende von Montessori Deutschland, Dr. Jörg Boysen, in einem Interview hier.
Inklusion:(D)Siehe auch unsere aktuelle Erklärung zur Inklusionsdebatte, im Kommentar unten verlinkt. Es wird Montessori manchmal vorgeworfen, sie hätte zeitweise dafür plädiert, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen getrennt zu beschulen von Kindern ohne Beeinträchtigungen, also gegen eine "Inklusion" gewesen sei. Inklusion setzt aber ein pädagogisches Konzept voraus, um Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichsten Begabungen und Fähigkeiten gemeinsam zu unterrichten - ein Begriff und ein Konzept, die es damals nicht gab.
Hierzu muss man wissen, dass um das Jahr 1900 Kinder mit Behinderungen in Italien gar nicht beschult wurden, mit entsprechenden lebenslangen Folgen für den Einzelnen und für die Gesellschaft. (E)Montessori weist in einem Text aus 1899 darauf hin, dass es zwar eine Grundschulpflicht gäbe, aber mit folgender gesetzlicher Einschränkung: „Der Schüler, der aus Böswilligkeit oder geistigem Ungenügen dem regulären Unterrichtsverlauf nicht folgen kann oder der durch seine Undiszipliniertheit die Ruhe der Klasse unverbesserlich stört, soll von der Schule verwiesen werden.“ Kinder – wie wir heute sagen würden – mit Behinderungen würden deshalb entweder gar nicht eingeschult oder aber regelmäßig aus der Schule ausgeschlossen werden. Sonderschulen gäbe es in Italien damals nicht. Quelle: s. unten.
Montessori forderte, dass sie überhaupt beschult werden, weil sehr wohl des Lernens fähig seien, aber unter den Bedingungen einer besonderen Pädagogik, dabei auf die Erfolge der französischen Ärzte Seguin und Itard verweisend. Tatsächlich gründete sie um diese Zeit ein heilpädagogisches Lehrerausbildungsinstitut (eines der Themen im neuen Spielfilm zu Montessori).
"Das Ministerium für menschliche Entwicklung" (Ministry of the Race): Wie Prof. Ludwig als Einleitung zu diesem Text schreibt, war Montessoris Anliegen, "für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bessere gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, um den kommenden Generationen ein höheres gesamtmenschliches Lebensniveau zu ermöglichen". Der Text wird immer wieder bemüht um nachzuweisen, dass Montessori - auch und sogar in späten Jahren - Eugenik-Anhängerin war, weshalb wir ihn hier kommentiert veröffentlichen. Aus unserer Sicht ist die Schlussfolgerung nicht nachvollziehbar. (F)In einem Online-Beitrag bei News4teachers vom 19.02.2024 (Link: s. Kommentar F unten) kommentiert Prof. HeinerBarz u.a. ebenfalls die Kritik an diesem Text.
Vermeintliche Bewunderung für Mussolini und Hitler in 1949: Im Abschnitt "Organisierte Gesellschaft" aus dem 1949 erschienenen "Das kreative Kind", wo es um die Kohäsion einer Gesellschaft geht, erwähnt Montessori, dass auch Mussolini und Hitler dies geschafft hätten. Der Text wird von Kritikern bemüht, um eine Nähe zu den beiden Diktatoren nachzuweisen, dabei ist aus dem Kontext eindeutig erkennbar, dass sie dies als negatives Beispiel sieht und beide als "Dämonen" bezeichnet. Daher veröffentlichen und kommentieren wir den kompletten Text des Abschnitts hier.
Zur Einordnung dieser Kritikpunkte sei Prof. Volker Ladenthin zitiert (G)Die Reform der Pädagogik - Praktische Ideen und Hintergründe in systematischer Absicht. Band 2: ZurPädagogik Maria Montessoris. Volker Ladenthin. LIT Verlag 2023. S. 147 (kursiv im Original):
„Und vielleicht ist es wichtiger, die aktuelle Gestaltung und Ausgestaltung der Montessori-Pädagogik zu betrachten, um gegebenenfalls Kritik zu formulieren, als aus einer Situation politischer Gefahrenlosigkeit eine Vergangenheit unterkomplex zu rekonstruieren und sich selbst moralisch zum Richter zu erklären. Erfahrungen der Vergangenheit mögen sensibel machen für die Gegenwart; aber die Vergangenheit einer Person ist kein Geltungsgrund, um gegenwärtiges Handeln zu bewerten. Menschen sind lernfähig. Mit der Kritik der Ereignisse der Vergangenheit ist nicht die Beurteilung der Gegenwart geleistet. Nicht biografische oder unterstellte strategische Entscheidungen sollten Gegenstand pädagogischer Systematik sein, sondern Gegenstand der Kritik kann nur sein, ob ein pädagogisches System in sich schlüssig ist, sein Ziel erreicht und ethisch zu vertreten ist.“