Berufliche Heimat gefunden: Ein Interview mit Montessori-Schulleiter und Lernbegleiter Sven Burger über die Arbeit mit Jugendlichen
Kann die Arbeit mit Teenagern glücklich machen? "Ja!", sagt Sven Burger – wenn die Voraussetzungen stimmen. Der Leiter der Sekundarschule der Freien Montessori Schule Main-Kinzig in der hessischen Gemeinde Linsengericht erzählt im Interview, wie er in der Montessori-Pädagogik seine berufliche Heimat gefunden hat, weshalb Jugendliche zu Unrecht ein schlechtes Image haben und weshalb er seine Arbeit als sinnstiftend empfindet. Haben Sie Interesse, selbst Montessori-Pädagogin oder -Pädagoge zu werden? Hier finden Sie direkt alle Infos: https://www.montessori-deutschland.de/lets-go-montessori .
Sven Burger ist Schulleiter und Lernbegleiter an der Freien Montessori Schule Main-Kinzig. Er arbeitet seit über 20 Jahren mit Jugendlichen, erst im staatlichen System und dann an verschiedenen Montessori Schulen. Für seine Arbeit mit Jugendlichen absolvierte er die Orientation for Adolscents Studies 2014 in Schweden und erlangte sein AMI-Diplom für die Altersgruppe 12-18 im Jahr 2022. In der Montessori-Pädagogik hat er seine berufliche Heimat gefunden und viel über sich selbst und Jugendliche gelernt und lernt weiter täglich dazu.
Im Interview, das sie auch in unserem Montessori Deutschland Imagefilm "Der großartigste Job dieser Welt" in Ausschnitten sehen können, spricht er über seine Arbeit und Passion.
Frage: Warum hast du dich für die Montessori-Pädagogik entschieden? Wie bist du dazu gekommen, und was unterscheidet sie von deiner vorherigen Arbeit?
Sven Burger: Ich bin eher zufällig zur Montessori-Pädagogik gekommen. Zuvor war ich an einer Regelschule tätig, doch mich hat gestört, dass es zwar auf dem Papier viele Möglichkeiten gibt, diese in der Praxis aber oft durch gedankliche Schranken begrenzt sind. Also habe ich mich umgehört, welche alternativen Konzepte es gibt, um mit Jugendlichen zu arbeiten. Meine damalige Schulleiterin hat mich dann zur Montessori-Pädagogik gebracht. So bin ich darauf gestoßen – und geblieben.
Frage: Was hat dich überzeugt, dabei zu bleiben?
Sven Burger: Mich begeistert, dass Montessori wirklich eine Pädagogik ist, die vom Kind bzw. in unserem Fall vom Jugendlichen ausgeht. Die Jugendlichen stehen im Mittelpunkt, mit ihren Bedürfnissen und dem, was sie wirklich brauchen. Nicht Noten oder Vergleichsarbeiten bestimmen den Schulalltag, sondern die individuelle Entwicklung der Jugendlichen. Das fasziniert mich.

Frage: Vereinfacht diese Herangehensweise deine Arbeit? Sind die Jugendlichen kooperativer als in anderen Schulsystemen?
Sven Burger: Ich finde die Arbeit hier viel spannender und vielseitiger. Die Jugendlichen lernen, selbstständig zu arbeiten. Wenn das gelingt, entstehen wunderbare Dinge, die mir Freude bereiten. Jugendliche sind voller Energie, Idealismus und Enthusiasmus. Leider haben sie in der Gesellschaft oft einen schlechten Ruf, aber ich erlebe hier täglich, wie unberechtigt das ist. Sie können so viel bewegen, und das zu sehen, macht mich glücklich.
Frage: Was genau machen die Jugendlichen hier? Es gibt ja keinen Unterricht im klassischen Sinne.
Sven Burger: Genau. Jugendliche befinden sich in einer Transformationsphase vom Kind zum Erwachsenen. Um erwachsen zu werden, muss man erwachsene Aufgaben übernehmen. In vielen Schulen füllen die Schüler Arbeitsblätter aus – aber mal ehrlich, als Erwachsener füllt man kaum noch Arbeitsblätter aus, außer vielleicht bei der Steuererklärung. Unsere Jugendlichen erledigen echte Arbeiten: Sie kaufen ein, kochen, bügeln, waschen Wäsche, stellen Produkte her und verkaufen sie, vermieten Zimmer und verdienen ihr eigenes Geld. Gleichzeitig setzen sie sich mit akademischen Themen auseinander, die sie interessieren und die einen direkten Bezug zu ihrer praktischen Arbeit haben.
Frage: Trotzdem machen die Schüler hier staatlich anerkannte Abschlüsse. Wie funktioniert das?
Sven Burger: Ja, die Jugendlichen erwerben hier reguläre Schulabschlüsse und können anschließend eine Ausbildung machen oder in die Oberstufe wechseln, um ihr Abitur zu machen. Sie lernen alles, was dafür notwendig ist, aber in ihrem eigenen Tempo. Damit das gelingt, brauchen sie Zeit und einen Rahmen, der ihnen Orientierung gibt. Sie müssen wissen, welche Anforderungen auf sie zukommen, wenn sie weitergehen wollen. Wir begleiten sie auf diesem Weg, aber der eigentliche Lernprozess ist individuell. Wissen lässt sich nicht einfach „vermitteln“ – es muss selbst erarbeitet werden. Und das tun die Jugendlichen hier mit Freude, weil sie sich mit Themen beschäftigen können, die sie wirklich interessieren. Mancher setzt sich vielleicht schon in Klasse 7 mit dem Periodensystem auseinander, ein anderer erst in Klasse 10 – das ist in Ordnung.
Frage: Gibt es bei euch Lerngruppen oder arbeitet jeder individuell für sich?
Sven Burger: Wir sind eine Gemeinschaft aus 50 Jugendlichen. Alle wichtigen Entscheidungen treffen wir gemeinsam. Trotzdem gibt es natürlich kleinere Gruppen für die tägliche Arbeit. Zwei pflegen den Garten, fünf beschäftigen sich mit linearen Funktionen, andere erforschen das deutsche Steuersystem oder kochen das Mittagessen. Jeder Tag ist anders.
Frage: Wie funktionieren die sogenannten Manager-Rollen?
Sven Burger: Damit die Arbeit hier funktioniert, übernehmen manche Jugendlichen besondere Verantwortung. Sie nennen sich „Manager“. Es gibt zum Beispiel Finanzmanager, die Buch führen und die Kasse verwalten, oder Bienenmanager, die sich um unsere Bienenvölker kümmern. Auch für die Hauspflege gibt es Verantwortliche, die darauf achten, dass das Gelände sauber bleibt.
Frage: Ihr verzichtet auf Noten, setzt aber auf eine konstruktive Feedbackkultur.
Sven Burger: Genau. Wer selbstständig arbeitet, braucht Rückmeldung. Jugendliche bekommen diese nicht nur von uns Erwachsenen, sondern auch von ihren Mitschülern. Das ist oft wertvoller und wirksamer. Sie sind dabei sowohl wohlwollend als auch direkt: „Hier ist keine Mama, räum deine Tasse selbst weg!“ Auch wir Erwachsenen bekommen Feedback – das gehört zu unserer lernenden Gemeinschaft dazu.
Frage: Wie sieht deine Arbeit als Schulleiter aus?
Sven Burger: Da die Begleitung der Jugendlichen sehr individuell ist, braucht es enge Absprachen im Team. Wir treffen uns jeden Morgen eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn und haben zusätzlich eine wöchentliche Teamsitzung. Besonders schätze ich unser multiprofessionelles Team mit unterschiedlichen Stärken und Kompetenzen – denn wir brauchen hier nicht nur Lehrer für Mathe, Deutsch und Englisch, sondern auch Menschen, die kochen oder handwerklich arbeiten können.
Frage: Die Jugendlichen nutzen sowohl analoge als auch digitale Medien. Wie wird das gehandhabt?
Sven Burger (lacht): Genau wie im echten Leben. Wer im Garten arbeitet, braucht eine Schippe, wer recherchiert, ein Tablet. Wichtig ist, sich bewusst zu machen: Was gewinne ich durch ein digitales Medium, was verliere ich dadurch? Diese Fragen sind individuell und begleiten unsere Arbeit.
Frage: Welche Voraussetzungen sollte jemand mitbringen, der als Lernbegleiter an einer Montessori-Schule arbeiten möchte?
Sven Burger: Vor allem sollte man Menschen mögen – und insbesondere Jugendliche. Sie sind speziell, und wenn man nicht mit ihnen umgehen kann oder will, ist man hier fehl am Platz. Zudem halte ich eine Montessori-Ausbildung für essenziell, um den besonderen Blick auf die Jugendlichen zu entwickeln. Man kann natürlich erst einmal reinschnuppern, aber wenn man sich dafür entscheidet, sollte man sich bestmöglich fortbilden.
Frage: Was möchtest du Menschen mitgeben, die überlegen, Montessori-Lernbegleiter oder -Lernbegleiterin zu werden?
Sven Burger: Ich habe meine Entscheidung nie bereut. Ich habe viel über mich selbst und über Jugendliche gelernt. In unserer Gesellschaft fehlt oft die Frage: „Wer möchtest du als Erwachsener sein, und was willst du beitragen?“ Wenn wir etwas verändern wollen, dann über die Kinder und Jugendlichen. Sie müssen wissen, was sie später tun können und wollen. Das zu begleiten, ist unglaublich sinnstiftend.
Gerne vermitteln wir Interviews mit Montessori-Pädagog:innen, Bildmaterial sowie Kontakte und Vor-Ort-Besuche in unseren Mitgliedseinrichtungen (Kinderhäuser und Schulen).
Bitte kontaktieren Sie dazu unsere Pressestelle:
Elizabeth von Sobiesky